<<< vorhergehende Seite | Der Blutige Baron |
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Im Gemeinschaftsraum war es angenehm warm. In dem grossen Kamin prasselte ein Feuer und auf den Sesseln lagen grosse Kuschelkissen und flauschige Decken bereit. Trotzdem zogen einige der Slytherin-Schüler die Kragen ihrer Pullover höher und versteckten die kalten Finger in den wollenen Ärmeln. Es war nicht nur das grausige Wetter, das sie frösteln machte. Zwar tobte draussen vor der Burg ein Gewitter, wie es das altehrwürdige Hogwarts schon lange nicht mehr gesehen hatte. Blitze jagten sich über den Himmel und erleuchteten die aufragenden Turmspitzen. Donnergrollen liess die dicken Mauern erzittern. Und eine wahre Sintflut peitschte vom violettblauen Himmel auf die Schlossgründe hinunter.
Im Gemeinschaftsraum in den Kerkern des Schlosses bekam man von diesem Getobe nur die mächtigen Donnerschläge mit, Fenster gab es in diesen Tiefen keine. Die Kinder hätten sich also durchaus wohl fühlen können. Stattdessen herrschte angespannte Stille in dem hohen Raum, in dem sich das halbe Haus zusammendrängte.
Die älteren Schüler hatten nämlich die Idee gehabt, einen Geschichtenwettbewerb zu veranstalten. Reihum meldeten sich Schüler (vor allem ältere, natürlich) und trugen eine Gruselgeschichte nach der anderen vor. Den kleineren Schülern war es ob einiger dieser Fantasiegebilde bereits ziemlich mulmig geworden, und sie schauten sich immer wieder möglichst unauffällig um. Warum sollte sich indem Schatten in dieser Ecke dort kein Ungeheuer verbergen? In dieser Nacht schien alles möglich.
Gerade hatte einer der Fünftklässler eine haarsträubende Geschichte über Riesenratten in den Kellern des Schlosses erzählt und einige der jüngere standen auf, um sich in die Schlafsäle zu stehlen und sich dort in ihren warmen Betten zu verstecken. Da erhob sich Eve Miller, eine rundliche Sechstklässlerin mit glatten, kohlschwarzen Haaren und lebendigen Augen. Sie lächelte in die Runde und sagte: "Jetzt haben wir wohl alle genug frei erfundene, hässliche Geschichten gehört. Ich werde euch etwas Interessanteres erzählen." Sie zwinkerte verschwörerisch mit den Augen und fuhr fort: "Wie einige von euch wissen, ist mein grosser Bruder Historiker beim Londoner Stadtarchiv. Als er etwa so alt war wie ich, hat er sich schon für den Ursprung von Dingen interessiert und hat nach allem geforscht, was ihn gerade so beschäftigt hat." Eve machte eine kleine Pause und sah in die Runde. Die Gesichter der älteren Schüler waren etwas enttäuscht und mürrisch, sie hätten sich lieber noch weiter über die Angst der kleineren amüsiert. Diese jedoch schienen erleichtert, dass nun eine Geschichte der etwas anderen Art folgen würde und starrten mit grossen Augen zu ihr hoch.
"Einmal," begann Eve also, "begegnete mein Bruder an einem Abend dem Blutigen Baron, der wie immer nicht sehr gesprächig war und mit mürrischem Gesicht an ihm vorbeischwebte. Da begann mein Bruder, sich zu fragen, wie unser Hausgeist wohl umgekommen ist. Er begab sich natürlich zuerst in die Bücherei der Schule. Aber in dem Buch über unsere Hausgeister fand er nur Vermutungen und Unsicherheit. Er suchte in dem Buch "berühmte Geister dieser Zeit" nach dem Blutigen Baron, fand ihn jedoch nicht. Auch in den grossen Büchereien in London wurde er nicht fündig. Schliesslich wagte er es sogar, den Geist selbst nach seiner Vergangenheit zu fragen."
Bewundernde Rufe aus den Zuhörerreihen quittierten diesen Satz. Die wenigsten in diesem Raum hatten ihren Hausgeist schon einmal angesprochen. Eve schüttelte den Kopf, um um Ruhe zu bitten und fuhr fort: "Natürlich bekam er keine Antwort. Er kann wohl von Glück sagen, dass ihm nichts zugestossen ist. Der Baron war nicht sehr erbaut über diese Indiskretion...." sie seufzte leicht und hob dann wieder an: "Aber mein Bruder wollte nicht aufgeben. Aus Bemerkungen von Lehrern schloss er, dass der Blutige Baron zu seinen Lebzeiten ein Landadliger mit riesigem Besitz in der Umgebung, in der heute Hogwarts steht, gewesen sein musste. Er begann, als Muggel verkleidet herumzugehen und sich in den Dörfern umzuhören. Wenn jemand etwas über die Gesichte des Barones wusste, mussten es die Leute sein, dachte er sich. Und tatsächlich: Er stiess auf Gerüchte über einen grausamen Baron, der früher hier geherrscht hatte. Ein Ketzer soll er gewesen sein, grausam und verschlagen, und sich keinen Deut um seine Untergebenen gekümmert haben. Das klingt doch sehr nach einer heissen Spur, wenn man das Wesen unseres Hausgeistes kennt. Als die Zechbrüder in der Kneipe nichts mehr zu erzählen wussten, schickten sie meinen Bruder zu einer alten Frau, die am Rande ihres Dorfes wohnte. Sie empfing ihn in ihrer kleinen Stube und erzählte ihm alles was sie wusste, und das war nicht wenig. Seit Generationen hatte ihre Familie in diesem Dorf gewohnt und sie war mit Geschichten über das Leben ihrer Ahnen aufgewachsen. Froh, wieder einmal einen Zuhörer zu haben, berichtete sie meinem Bruder ausführlich von dem "Blutigen Baron". Ja, er wurde tatsächlich auch von den Muggeln so genannt, ihr werdet bald hören, warum. Dieser Baron also besass eigentlich alles Land, das ihr sehen könnt, wenn ihr aus einem Turmfenster schaut. Sein Schloss hat nicht weit vom Anwesen der Schule auf einem der vielen Hügel gestanden. So viel ich weiss ist heute nichts mehr davon übrig. Aber kommen wir zurück zu der alten Dame. Sie erzählte meinem Bruder, wie sehr die Landbevölkerung unter ihrem Lehnsherr litt, dem sie hohe Abgaben zahlen musste. Der Baron wohnte weitgehend alleine, er hatte keine Gesellschaft um sich ausser seinen Dienern und Stallknechten und seinen ständig wechselnden Buhlschaften. Er trank oft und viel und manchmal kam er zu Pferde in die Dörfer geritten, um Leute für Kleinigkeiten zu bestrafen und ihnen unerhörte Aufgaben aufzuerlegen, oder um junge Mädchen auf seine Burg mitzunehmen. Um die Kirche und den Dorfpfarrer, der ihn immer wieder anflehte, sich zu mässigen, kümmerte er sich nicht, ja, er machte sich über sie lustig. Seine Diener erzählten, er schlösse sich Abend für Abend in seinem Turmzimmer ein. Dann könne man beobachten, wie hinter den zugezogenen Vorhängen verschiedenfarbiges Licht aufblitze. Oft verschwand er auf mysteriöse Weise, ohne sein Pferd mitzunehmen und ohne eine Spur zu hinterlassen. Dann blieb er tagelang weg, um ebenso plötzlich wieder aufzutauchen. Die Leute fürchteten sich sehr vor ihm und munkelten, er stünde mit dem Teufel im Bunde. Aber niemand wagte es, ihn offen zu beschuldigen.
Aber eines Tages" - Eve hob einen Finger und die Kinder, die schon ein wenig dösig den märchenhaften Beschreibungen gelauscht hatten, setzten sich gerader hin - "eines Tages geschah etwas, das alle seltsamen Dinge, die die Leute seiner Baronie erlebt hatten, übertraf. An diesem Punkt der Erzählung wurde die alte Frau sehr ernst und sagte leise zu meinem Bruder: "Ich weiss, junger Mann, dass Leute in ihrem Alter nicht an fantastische Dinge glauben, die ihnen alte Leute erzählen. Aber ich erzähle die Geschichte so, wie sie seit jeher erzählt wird, und ihr mögt selbst davon glauben, was ihr wollt."
Eines Tages ritt der Baron in ein kleines Dorf, das Whelshire genannt wurde. Er hatte gehört, dass dort ein ganz besonders hübsches, junges Mädchen wohne, und wollte sie mit sich nehmen, um sich an ihr zu erfreuen. Aber Maria, so hiess das Mädchen, wollte in ein Kloster eintreten und sie hatte nicht vor, sich verschleppen zu lassen, wie es mit so vielen Jungfrauen vor ihr geschehen war. Mit Hilfe des Pfarrers verliess sie heimlich das Dorf, als der Baron mit seiner Gefolgschaft angeritten kam, und floh in den Wald. Mein Bruder vermutet übrigens, dass es sich dabei um den damals noch wesentlich ausgedehnteren Verbotenen Wald handelte. Wie dem auch sei, der Baron und seine Diener erfuhren rasch, dass ihre Beute auf der Flucht war, und sie folgten ihr zu Pferd, bis der Wald zu dicht wurde. Dann stiegen sie ab und rannten hinter Maria her. Das Mädchen in seinen weiten Röcken und mit seiner geringen Ausdauer hatte natürlich keine Chance gegenüber den geübten Jägern und Reitern in den besten Mannesjahren. Als der Baron schliesslich auf einer Waldlichtung bis auf wenige Schritte an Maria herangekommen war, da brach etwas aus dem Unterholz, das so weiss leuchtete, dass alle Umstehenden erschrocken die Augen zusammenkniffen. Es war ein auffällig kleines, schlankes Pferd mit einer wallenden Mähne und leuchtend blauen Augen. An diesem Punkt machte die alte Dame eine theatralische Pause, dann raunte sie meinem Bruder zu: "Es hatte ein Horn auf der Stirn."
Sie schaute ihn erwartungsvoll an, überzeugt, dass er nun in Gelächter ausbrechen würde. Als dies jedoch nicht geschah, fuhr sie umso eifriger fort.
Das Einhorn durchmass mit einigen leichten Sprüngen die Lichtung und stellte sich vor die stocksteif dastehende Maria. Dann drehte es seinen Kopf gegen die Verfolger und rührte sich nicht mehr vom Fleck. An diesem Punkt erkannten die Diener des Barons, dass der Himmel Maria beschützte, und sie wichen zurück und schlugen ehrfürchtig ein Kreuz über der Brust. Aber der Baron pfiff auf den Himmel und alle seine Zeichen, und er spannte seinen Bogen und schoss dem Einhorn einen Pfeil in die Seite. Das Tier taumelte, blieb jedoch stehen. Der Adlige sah seine Chance gekommen und näherte sich mit gezücktem Degen. Als er jedoch auf Maria zugehen wollte, bäumte sich das Einhorn auf und bedrohte ihn mit seinen Hufen. Obwohl er einige schwere Schläge erwischte, führte der Baron einen wütenden Streich und schnitt dem Einhorn die Kehle durch."
An dieser Stelle legte Eve eine kurze Pause ein, denn empörte und entsetzte Rufe klangen durch den Raum. Sie stammten nicht nur von den jüngeren Schülern. Auch die Älteren waren von ihrer Geschichte gefesselt.
"Ihr alle wisst, dass Einhornblut silbern ist." Eine Fontäne solch silbernen Blutes regnete nun auf den grausamen Baron hinunter, der sich, ohne sich darum zu scheren, auf Maria stürzte. Aber das fromme Mädchen wehrte sich heftig, und so fiel auch sie der Ungezügeltheit des Barons zum Opfer. Mit einem Messer in der Brust sank sie sterbend zusammen. Das Einhorn jedoch, das sich noch einmal aufgerafft und mit erhobenen Vorderbeinen den Baron angegriffen hatte, verblutete schliesslich, und sank leblos und schwer über dem Adligen zusammen. Seine zuckenden Hufe fügten ihm noch mehr Prellungen zu, und obwohl diese allein nicht tödlich gewesen wären, verstarb er ein paar Tage später in furchtbaren Fieberträumen, schreiend und leidend.
Man begrub Maria mit dem grösstmöglichen Pomp auf dem Friedhof des Dorfes und schrieb auf ihren Grabstein: "Hier liegt Maria, die Jungfrau. Gott war mit ihr, und nun ist sie mit ihm."
Als man einen Tag nach dem Ereignis den Kadaver des Einhorns aus dem Wald holen wollte, um auch das Tier wie einen Märtyrer zu begraben, war er verschwunden. Nur ein paar silberne Blutflecken im Gras zeigten an, wo es verendet war.
Den Baron jedoch verscharrte man ausserhalb des Dorfes in einer Grube. Es gelang niemandem, sein mit silbernem Blut getränktes Gewand reinzuwaschen, und so legte man ihn in die Erde, wie er gerade war, und auf einen unbehauenen Stein schrieb man: Hier liegt der Blutige Baron. Zwei unschuldige Kreaturen hat er getötet und musste dafür bezahlen."
Eine grosse Stille breitete sich im Gemeinschaftsraum der Slytherins aus. Eve holte tief Luft und erhob sich. "Ja", meinte sie. "So hat das die alte Frau erzählt, und ihr könnt euch denken, wie froh mein Bruder war, dass dem Zaubereimninisterium und den Vergissmichs dieser Fall nie bekannt geworden ist."
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