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Dumbledores Denkarium

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Das erste Jahr

Das ist es also. Es hat begonnen. Langsam rollen etliche kleine Kutschen den steilen Pfad zum Schloss hoch, alle beladen mit grossen Taschen, schweren Bündeln und natürlich massenweise aufgeregt schwatzenden Schülern.
Auf einer der Zinnen, die in den schon dunkel werdenden Abendhimmel ragen, steht die hochgewachsene Gestalt einer Frau, und beobachtet stumm die Ankömmlinge.
Rowena Ravenclaw hat sich nichts sehnlicher herbeigewünscht als diesen Tag. Diesen einen Moment, wenn die ersten Schüler, die ihren Unterricht besuchen werden, in die grosse Eingangshalle schreiten, wird sie nie in ihrem ganzen Leben vergessen. Das hat sie sich geschworen. Ein kühler Wind fegt um die Turmspitzen und lässt ihren dunkelblauen Umhang flattern, als sie sich abwendet, und mit leichten Schritten die vielen Stufen der Turmtreppe hinabeilt. Alle Worte der Welt können nicht ausdrücken, was sie fühlt. Alles, was sie sich in den letzten Jahren des Zweifels und der schweren Arbeit immer wieder vor Augen gehalten hat, die Bilder, die sie heraufbeschwor, um sich Mut zu machen, all das, wofür sie gekämpft und all ihr Wissen hingegeben hat, wird sich nun erfüllen. Hogwarts, die erste Schule für Hexerei und Zauberei, ist eröffnet. Schon in zwei Tagen werden die Gänge erfüllt sein mit dem Gemurmel dahineilender Schüler, dem Geräusch von vielen Schritten kleiner Füsse, der Atmosphäre des Lernens und des Eifers. Die Stille, die über den Gängen und Klassenräumen hängt, wird ein Ende haben.
Rowena beschleunigt ihre Schritte und stösst an einer Biegung des Ganges fast mit einer ebenfalls schnell ausschreitenden Gestalt in dunkelroten, wogenden Gewändern zusammen.
"Verzeiht, Helga, ich habe euch nicht gesehen."
Helga Hufflepuff richtet wie immer mit einem abwesenden Ausdruck in den Augen ihre Röcke und antwortet etwas ausser Atem: "Macht keine Witze, Rowena, das war natürlich meine Schuld."
Ohne noch auf eine Erwiderung zu warten, hakt sie sich bei der wesentlich grösseren Frau ein und zieht sie weiter, wobei sie murmelt: "Wäre eine Schande, zu spät zu kommen, am ersten Tag. Es soll doch alles perfekt sein. Ich hoffe nur, Godric und Salazar finden den Weg!"
Unter weiteren besorgten Selbstgesprächen Helgas kommen die beiden schliesslich oben an der Treppe in der Eingangshalle an. Die kleine Hexe hätte sich keine Sorgen machen müssen. Salazar Slytherin -wie immer in schwarzer Robe und Umhang- und Godric Gryffindor -mit diesem protzigen Schwert an der Seite und in eleganten Stiefeln, wie Rowena bemerkt- warten schon am Fuss der Treppe, die Blicke unverwandt auf die riesigen Türflügel des Eingangstores gerichtet.
Ein dumpfes Pochen ertönt. Salazar tut einen Schwenker mit seinem Zauberstab und knarrend öffnet sich das Portal. Draussen steht, einen knorrigen Eichenstock in der Hand, ein gebeugter kleiner Mann, dessen Leibesumfang an ein Weinfässchen erinnert. Wladimir Glades ist wohl älter als alle vier Schulgründer zusammen, sein kleines Gesicht mit tiefen Furchen versehen, seine knorrigen Hände wie Löwenpranken. Harte Arbeit hat sein ganzes Leben und auch seinen Körper gezeichnet. Wann und wie er Godric Gryffindor getroffen hat, weiss niemand ausser den beiden, aber es muss schon lange her sein, und seither ist Wladimir da zu treffen, wo Godric sich aufhält. Nun bekleidet der alte Mann den Posten des Türhüters und packt mit an, wo Hilfe gebraucht wird.
Die Aufmerksamkeit der vier Magier jedoch gilt jetzt den Schülern, die sich hinter Wladimirs gebeugtem Rücken in die Schatten drücken. Wladimir gebietet den Kindern mit einem zahnlosen Lächeln und einer Handbewegung, einzutreten, und hinter ihnen schliesst sich das Tor wieder.
Godric tritt nun einen Schritt vor und lächelt sein strahlendes Lächeln, das er so gut beherrscht, und das immer die ganze Welt einzuschliessen scheint. Sie hatten beschlossen, dass er reden solle. Zwar hätte jeder von den vieren gerne diesen Part übernommen, um den Neuankömmlingen gleich von Anfang an zu sagen, was sie selbst für wichtig hielten. Jedoch hatten sie nach langen Diskussionen eingesehen, dass es nicht gut wäre, die Kinder mit Salazars etwas düsterer Sprechweise zu erschrecken, oder ihnen von Helga Horrorvorstellungen über die Berge bevorstehender Arbeit ausmalen zu lassen. Und auch Rowena selbst hatte zugeben müssen, dass sie nun mal ein kühles Wesen hatte und dass der gutgelaunte Godric mit seinem strahlenden Lächeln am besten dazu geeignet wäre, die Schüler willkommen zu heissen.
"Willkommen!" dröhnt seine Stimme durch die Eingangshalle. "Willkommen, ihr alle, die ihr hier in Hogwarts etwas lernen wollt! Ich will nicht zu viele Worte verlieren. Folgt uns bitte in die grosse Halle, wo ihr euch stärken könnt."

"Hierher, Rowena, hierher mit den Dingern! Oh, wundervoll, ganz wundervoll!" Aufgeregt hüpft Godric in der grossen Halle umher und legt doch tatsächlich eine Art Stepptanz hin, als Rowena die glitzernden Silberfäden aus ihrem Zauberstab auf die grosse Tanne in der Mitte der Halle schweben lässt. Rowena schüttelt den Kopf. Auch sie freut sich darüber, ihr erstes Julfest in Hogwarts zu feiern, aber muss man deswegen gleich so kindisch werden? Der Baum sieht wirklich prächtig aus, das müssen auch Helga und Salazar zugeben, die zuerst nichts von der ganzen Sache wissen wollten.
"Ich finde sowieso, wir sollten nicht immer solch grosse Feste und Gelage feiern. Das bringt die Schüler nur aus dem Rhythmus. In den Ferien haben sie die Zeit, ihren Stoff zu wiederholen. Was sollen wir sie da durch solchen Unfug ablenken?" hat Helga geschnauft, als Godric ihr von seinem Plan, die grosse Halle heute ganz besonders schön zu gestalten, erzählt hatte. Und Salazar hat in seiner üblichen, kurzangebundenen Weise erklärt: "Versteh mich, Godric, ich hab einfach nichts am Hut mit solchen Dingen. Ich stehe euch nicht im Wege, aber bitte behelligt mich nicht damit."
Rowena aber hat eingewilligt, Godric zu helfen, und als sie jetzt neben dem grossen, lichtergeschmückten Baum steht und sich umsieht, da kriecht in ihr die Freude über ein gelungenes Werk hoch und sie versteht Godrics Ausgelassenheit.
Die Wände der Halle sind mit immergrünen Zweigen und Kränzen aus Lorbeer geschmückt, dazwischen hat Rowena ihre leuchtenden Gold -und Silberfäden verteilt. Auf dem Boden liegt dieser lustige Schnee, der durch einen verhältnismässig einfachen Zauber geschaffen wird, mit dessen Entfernung sich aber selbst geübte Zauberer schwer tun. Auch auf den Tischen hat Godric dieses Zeug verteilt, und Rowena hat, als er gerade nicht hinsah, das ganze zum Glitzern gebracht. Männer sind ja immer so stolz, wenn man sie korrigieren will. Und tatsächlich glaubt Godric, das Glitzern sei durch seinen perfekten Zauber gelungen.
"Schau mal, Rowena, wie echt es aussieht! Phantastisch! Das wird ein tolles Lichterfest!"
Da hat er recht. Die aberhundert Feen, die er heraufbeschworen hat, tauchen die Halle in ein farbiges Licht, weil sich der Schein der Kerzen, die auf dem Baum angebracht sind und über den Tischen in der Luft schweben, in ihren bunten Flügeln widerspiegelt. Sie summen leise, verstummen jedoch augenblicklich, um ihr Haar zu richten oder sich auf einem Lorbeerblatt in Pose zu werfen, wenn sie beobachtet werden.
Es klopft an einer der Türen. Wladimir Glades steckt den Kopf in die Halle und fragt mit seiner knarrenden Stimme: "Seid ihr soweit, Mrs. Ravenclaw, Mr. Gryffindor? Die Schüler sind fertig... oh, das ist ja wirklich ganz hübsch geworden!"
Hinter ihm kann man schon das lauter werdende Gemurmel der Kinder hören.
Rowena seufzt zufrieden. "Ja, wir sind soweit."

In diesem Sommer scheinen die Blumen um das Schloss kräftiger zu blühen als im letzten Jahr. Ob es an Wladimirs Pflege oder an der allgemeinen Aufregung und Vorfreude auf die Ferien liegt, kann niemand sagen. Auch Rowena Ravenclaw fiebert den Ferien entgegen. Besser gesagt, dem, was sie mit sich bringen. Heute beginnen die Abschlussprüfungen des ersten Schuljahres an Hogwarts, und sie ist so gespannt darauf, wie die Schüler wohl abschneiden werden, dass sie es fast nicht mehr erwarten kann, die ersten Prüfungsbogen in den Händen zu halten. Jetzt würde sich zeigen, was sie geleistet hatten. Ob sich die Mühe lohnte, die sie sich damit gemacht haben, den Stoff zu besprechen. Oh, wie oft sind sie in ihren Räumen am Tisch gesessen und haben sich darüber gestritten, wie man am besten lehren sollte, und was überhaupt. Wie viele verschiedene Ansichten sie gehabt haben! Aber sie haben es immer geschafft, haben sich zusammengerauft und Kompromisse geschlossen. Aber nur die Schüler konnten zeigen, ob das, was die vier für wichtig erachtet hatten, auch richtig vermittelt wurde. Rowenas Hände zucken, es juckt sie, jetzt schon den Federkiel und das Fass mit der roten Tinte aus dem Schrank zu holen. Die Sanduhr zeigt an, dass es noch vier Umdrehungen dauern wird, bis die ersten Prüfungen -es sind diejenigen über Geschichte der Zauberei- abgegeben werden müssen.
Rowena geht unruhig in ihrem Turmzimmer auf und ab. Vor dem Fenster gaukelt ein Schmetterling vorüber und unten auf den Wiesen kann sie Wladimir sehen, wie er mit geübten Handgriffen Gnome aus den Blumenbeeten verjagt. Auch die Ferien werden viel neues bringen. Die Schüler kehren für sechs lange, schöne Wochen nach Hause zurück. Aber hier im Schloss wird die Arbeit weitergehen. Helga und Salazar werden sich auf die Suche nach neuen Schülern machen, wozu sie in den vergangenen Monaten keine Zeit hatten. Und Rowena und Godric sollten die Stundenpläne für die Zweitklässler ausarbeiten...
Noch zwei Umdrehungen.
Was die Kinder wohl in den Ferien machen werden? Diejenigen, welche auf dem Land leben, werden den Eltern bei der Heuernte behilflich sein müssen. Die, deren Eltern aus einer höheren Schicht stammen, werden vielleicht für sechs Wochen in ein Landhaus ziehen. Wenn bloss keines von ihnen auf die Idee kommt, das Zauberverbot zu brechen, und damit die Muggel zu alarmieren. Rowena macht sich Sorgen, vor allem um diejenigen Kinder, welche schon vor ihrem Einzug in Hogwarts von den Muggeln der Zauberei verdächtigt worden waren. Salazar hat ihr Geschichten erzählt von Kindern, deren Eltern vor ihren Augen verbrannt wurden. Oft hat er gerade noch rechtzeitig eingreifen können, um wenigstens sie vor dem Scheiterhaufen zu retten. Da gibt es doch diese stille kleine Mädchen, das jeden Tag in der Bibliothek sitzt und einen langen Brief an seine Grossmutter schreibt. Salazar hat ihr erzählt, dass die alte Frau an dem Tag gestorben ist, als er kam, um das Mädchen mitzunehmen. Was die Kleine wohl in den Ferien macht?
Das Klappen der Kammertür lässt sie herumfahren. Es ist Salazar. Er hält einen grossen Stapel Pergamente in der Hand. Seine Augen leuchten, genau so, wie es die ihren tun müssen. Godric folgt ihm dicht auf den Fersen, Helga nicht minder.
Gemeinsam beugen sich die vier Köpfe über den Schreibtisch.

Das Bild verwischt sich, als etwas nasses auf seine glitzernde Oberfläche fällt. Silbrigweisse Fäden ziehen sich über die Szene in dem Studierzimmer hin, verdichten sich und machen sie schliesslich unsichtbar. Langsam klappt Rowena den Deckel des Denkariums zu. Ja, so war es. So viel hatten sie geschafft, so viel erreicht. Alles hatten sie geteilt. Und jetzt? Sie blickt hinunter aus dem Fenster, aus dem sie vor so vielen Jahren den alten Wladimir beobachtet hat. Jetzt ist der Schlossgarten kahl und düster. Die Bäume tragen kein Laub und kleine Flecken Schnees bedecken noch die weiten Wiesen. Der Frühling will noch nicht kommen, und es ist ihr nur recht so. Von weiter unten her wehen zornige Stimmen zu ihr hoch. Sie streiten sich schon wieder.
Nur ein abgemagerter alter Rabe schaut ihr von einer Zinne aus zu, als sie die kleine Dose in ihren Händen entschlossen öffnet und umdreht. Silberne Gedankenfäden ergiessen sich in die kalte Luft, werden von einem Windstoss erfasst, drehen sich ein paar mal um sich selbst, bevor sie verblassen und schliesslich verschwinden.

by yaga

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