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Es ist still im grossen Garten an diesem Morgen. Ungewöhnlich still. Verschlafen reiben sich die Gnomen die Augen und scheinen verwirrt darüber, dass das morgendlich Entgnomen, das sonst so regelmässig jeden Tag stattfand, heute auszufallen scheint. Grossblättrige Gewächse und hohe Bäume, alle vollbeladen mit Blüten aller Farben, verdecken fast das kleine, wetterschiefe Häuschen, das inmitten all der Pracht etwas verloren aussieht.
Ein neugieriger Sonnenstrahl sucht sich seinen Weg durch die blitzblanken Fenster im Erdgeschoss, weckt ein paar Staubkörnchen, die auf dem Fenstersims geschlafen haben und erreicht schliesslich sein Ziel: Einen nackten Zeh, der unter der karierten Decke des grossen Ehebetts hervorschaut. Kitzel-kitzel macht der Sonnenstrahl. So lange, bis sich Nicolas Flamel verschlafen gähnend aufrichtet und in den schon hell erleuchteten Raum blinzelt.
Nicolas Flamel lächelt. Das ist er nun also. Der letzte Tag. Er weiss es. Die Flaschen mit dem Elixier sind leer, das Haus an eine sympathische junge Familie verkauft, die Freunde verabschiedet (voller bittersüsser Wehmut denkt er an das letzte Bowlingspiel mit Albus Dumbledore. Trotz seines langen Lebens hat er den Freund nie schlagen können...), das Testament geschrieben. Mild lächelnd begrüsst Nicolas Flamel den Sonnenstrahl. "Einen besseren Tag hätten wir nicht beschert bekommen können", murmelt er leise, als er das Fenster öffnet und die milde Luft des Sommermorgens ins Zimmer strömen lässt. Er hat sich oft ausgemalt wie es sein könnte. Allein, wenn er traurig, aber auch wenn er glücklich war. Oder zusammen mit Perenelle. Sie haben immer gewusst, dass dieser Tag einmal kommen würde, kommen müsste. Sie würden den Weg aller Sterblichen gehen. Denn eigentlich, so sagte sich Nicolas Flamel immer wieder belustigt, ist die ganze Geschichte mit dem Elixier des ewigen Lebens ein Schmuh. Augenwischerei, Betrug, wenn man es so nennen will. Das Elixier macht nicht unsterblich. Es schenkt nur Leben, für eine bestimmte Zeit. Die Illusion der Unsterblichkeit wird nur durch regelmässiges Einnehmen des Elixiers hervorgerufen. Eigentlich, so dachte sich Nicolas Flamel oft, sind wir nichts als zwei alte Leute, deren Leben an ihrem Zaubertrank, ihrer Medizin hängt. Und doch! Es ist ein schönes, erfülltes Leben gewesen. Erfüllter und schöner als wohl manche seiner Bekannten es sich träumen konnten. Er hat gearbeitet, sein ganzes Leben lang. Geforscht, um Wissen gekämpft, Opfer erbracht für das, was er erreichen wollte. Und er ist glücklich gewesen dabei. Genau wie Perenelle mit ihrem Garten.
Sein Blick kehrt vom Ausblick in den Sommermorgen ins Zimmer zurück, dorthin, wo Perenelle Flamel auf dem grossen Bett noch immer schläft. Er hat ihr wieder einmal im Schlaf die Decke weggezogen. Nicht einmal in ihrer letzten Nacht hat er es geschafft, sich zu beherrschen. Und sie hat sie ihm wieder gutmütig überlassen.
Sie sieht gut aus, wie sie da liegt und friedlich schläft. Ja, sie sieht gut aus. Nicolas Flamel erinnert sich an junge, blonde, stark geschminkte Hexen und Fotos von ihnen auf den Titelblättern irgendwelcher Modemagazine, und er muss wieder lächeln. Wer Perenelle Flamel ansieht, der weiss, was Schönheit ist. Im einstmals kohlschwarzen Haar zeigen sich graue Strähnen, ihr Gesicht ist gezeichnet von den Spuren vieler, herzlicher Lächeln, von fröhlichen und ernsten Stunden ihres Lebens. Ihre Hände, die auf den weissen Laken noch braungebrannter aussehen, erzählen die Geschichte vieler Stunden harter, fröhlich getaner Arbeit in ihrem Garten. Sanft sieht sie aus. Und doch hat Perenelle eine Art, mit der sie alles bekommt, was sie will. Nie, seit sie in diesem Häuschen wohnen, hat sie eine der Arbeiten getan, die sie so hasst. Die Fenster geputzt, die Wäsche gewaschen, gekocht. Nein, das hat er getan und wenn sie dann aus ihrem geliebten Garten kam, mit einem Strauss ihrer neusten Rosen-ohne-Dornen-Züchtung und ihrem stolzen Lächeln, dann hat er sich reicher belohnt gefühlt als für alle anderen Arbeiten, die er je in seinem getan hat.
"Wach auf, liebe Perenelle. Es ist Tag." Sie regt sich bei seinen Worten und es dauert keine Minute, bis sie mit hellwachen, leuchtenden Augen zu ihm hochschaut.
"Der Tag, Nicolas, heute ist der Tag." Ihr Blick wandert zum Fenster und sie fügt hinzu: "Ein schöner Tag."
Ja, ein wirklich schöner Tag. Und ein seltsamer Tag. Wie ertappen sie sich beide immer wieder dabei, dass sie in den alltäglichen Trott zurückfallen wollen. Perenelles Blick wandert nicht selten sorgenvoll zum Garten, wo sich die Gnome fröhlich kieksend und giggelnd zwischen den Ginsterbüschen vergnügen.
"Die Malcolms werden in ihrer ersten Zeit zu viel Arbeit haben, um den Garten zu entgnomen" meint sie mit ihrer leisen, sanften Stimme. "Die junge Miss Malcolm wird es nicht tun können, stell dir vor, das Bücken macht ihr so schon genug Mühe, das muss ja ein recht kräftiges Kind werden..."
Heute gibt es Hagebuttentee statt des üblichen schwarzen Kaffees. Und Zitronenbrausebonbons. Nicolas gluckst, als die Dinger auf seiner Zunge zu prickeln anfangen. Dumbledore hat recht gehabt: Diese Muggelleckereien machen Spass.
"Wir sollten eine Dose für die kleine Hanni Malcolm aufbewahren, sie wird sich darüber freuen." Wieder schweifen Perenelles Augen über das Fenster zum Garten hinaus. "Nicolas, ich finde wirklich..."
Sie hätten beide nicht gedacht, dass das Entgnomen zu zweit so viel Spass macht. Die geübte Perenelle wirft die kreischenden kleinen Wesen natürlich um Längen besser als Nicolas, der eine ganze Stunde braucht, bis er den richtigen Dreh raushat.
Dafür kann sich Perenelle partout nicht mit dem Messer anfreunden, mit dem sie die Gurken für den Salat schneiden soll. Während Nicolas den Braten fertigmacht, die Kartoffeln röstet und die Sosse in den Topf zaubert, müht sie sich redlich, jedoch mit mässigem Erfolg. Schliesslich wischt sie sich den Schweiss von der Stirn, packt mit einem verschmitzten Lächeln ihren Zauberstab und lässt diesen die Arbeit erledigen.
"Wir hätten es wohl nicht besser treffen können, nicht wahr mein Lieber?" meint sie später beim Nachmittagskaffee unter der grossen Eiche. "Ein langes Leben hatten wir. Und diesen letzten Tag. Und jetzt sitzen wir hier, du und ich, und haben es schön."
"Ja meine Liebste, wir dürfen wohl dankbar sein für alles."
Im Baum oben pfeifen die Vögel, in den Ginsterbüschen sitzen jetzt ein paar Feen und mit allerlei vertraulichen Gesprächen schreitet der Nachmittag voran. Als schliesslich die Sonne die fernen Hügel küsst, beschreiten die beiden ein letztes Mal die vertrauten gepflasterten Gartenwege und kehren dann zurück in ihr kleines Haus. Ein letztes Mal noch sagen sie den engen Räumen ihres langjährigen Zuhauses Hallo, dann ziehen sich Nicolas und Perenelle Flamel in ihr Schlafzimmer zurück. Nicolas schliesst sorgfältig die Tür und das Fenster. Die Vorhänge jedoch zieht er nicht zu. Der nächste Tag soll genau wie alle vorherigen seinen ersten Sonnenstrahl durch ihr Fenster schicken.
Perenelle liegt schon auf ihrem Kissen. "Heute bekommst du die Decke, Perenelle." Sie lächelt. "Wir teilen sie uns. Du wirst sie mir bestimmt nicht wegnehmen."
Zärtlich küsst er sie auf die Stirn.
"Gute Nacht meine liebste Perenelle."
Sie legt ihre Hand in die seine.
"Gute Nacht, lieber Nicolas."
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