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Die Sonne schien blass durch die hohen Bogenfenster des Raumes, zeichnete schwach den Umriss des Fensters auf den Boden, brach sich in verschiedenen seltsamen gläsernen Gerätschaften und ließ das Gesicht des über ein dickes, ledergebundenes Buch gebeugten Mannes noch mehr wie eine Kraterlandschaft aussehen. Die Konzentration, mit der er sich seiner Tätigkeit widmete, war ihm ebenso anzusehen wie die vielen Jahre der Sorge und des Kummers, der Anstrengung und der Entbehrung. Tiefe Furchen zogen sich von seinen Nasenflügeln zu seinen Mundwinkeln, Fältchen um seine Augenwinkel zeugten von lachenden Mienen, aber auch von verkniffenen Gesichtern und wutverzerrtem Mienenspiel. Schneeweißes, von dunkelgrauen Strähnen hartnäckig durchzogenes Haar fiel, zu einem komplizierten Zopf geflochten, bis auf seinen Rücken hinab und gab ihm das Aussehen eines ehrwürdigen Astronomen.
Und in der Tat dachten einige ignorante Leute, sie könnten Phylemohn Henry Flamel mit diesen Sternquacksalbern in einen Topf werfen.
Hätten sie sein Gesicht und seine Art besser zu deuten gewusst, hätten sie sich in Acht genommen. Aber da die meisten einfachen Bürger sowieso nicht auf das achteten, was sich vor ihrer Nase abspielte, kam es nicht selten vor, dass sie einen geharnischten Wutausbruch provozierten. Aber da Henry Flamel im Grunde eine gute Seele war, hielten seine schlechten Stimmungen nie lange vor und bald begannen seine wasserblauen Augen, wieder freundlich zu leuchten oder aber, sich nachdenklich in der Ferne zu verlieren.
Dann zog er sich leicht hinkend und auf seinen absonderlich geformten, eichenen Stock gestützt in sein Turmzimmer zurück, um stundenlang über dicken Büchern zu brüten, seltsame Substanzen in seinen Glasbehältern zusammenzugießen oder einfach ewig zum Fenster hinauszustarren. Meist hatte er dabei das zerfledderte Buch im Ledereinband auf den Knien liegen, in dem er nun so aufmerksam las. Seine schmierigen Seiten waren dicht beschrieben, so dass an manchen Ecken die alte mit der neuen Tinte zusammengeflossen und fast nicht zu entziffernde, krakelige Gebilde hinterlassen hatte.
Es war Henry Flamels Notizbuch, sein größter Schatz, sein gesammeltes Wissen, seine Lebensaufgabe, alles, was er je für wichtig befunden hatte. Fast alles.
Ein leises, fast durchscheinend klingendes Husten ließ den Lesenden aufschrecken. Schnell legte er das Buch zur Seite, schob einige Berge bekritzelten Papiers zur Seite, um dafür Platz zu schaffen, dann raffte er hastig seinen Umhang, der ihm im Sitzen über die Schultern gerutscht war, wieder zusammen und eilte in eine Ecke des Zimmers, wo auf einem Strohsack ein vorübergehendes Lager errichtet worden war. Unter den bunten Steppdecken lag ein kleiner Junge von vielleicht neun oder zehn Jahren. Seine Arme, die auf der Decke lagen, und sein Gesicht waren übersät mit leuchtend roten Pusteln, die Haut wirkte bleich und rau.
"Papa!", bat der Junge. "Papa, erzähl mir noch einmal die Geschichte vom schlauen Fuchs."
Henry Flamel seufzte. Er hatte aufgehört, zu zählen, wie viele Male er seinem Sohn diese Geschichte schon erzählt hatte. Warum hatte seine Frau bloß zu dieser Beerdigung fahren müssen? Natürlich, es war der Mann ihrer Schwester, der zu Grabe getragen wurde, und Henry schimpfte sich auch gleich wieder einen gefühllosen Kerl, aber dass ihn jemand von seiner Arbeit abhielt und von ihm verlangte, ihm Geschichten zu erzählen, das war einfach zu viel für einen braven Alchimisten.
Gedankenverloren wiegte er seinen Kopf hin und her, während der Junge im Bett ihn erwartungsvoll betrachtete.
"Warte noch eine Weile, Nicolas, ich muss noch meine Notizen vollenden."
Um die ergatterte Zeit zu nützen, um nachzudenken, aber dem Jungen trotzdem etwas zum Gucken zu bieten, begann Henry Flamel, einen großen Glaskolben mit dem lustigen, aber nutzlosen blauen Wasser zu füllen, das er am Abend zuvor geschaffen hatte. Gurgelnd ergoss sich die Flüssigkeit in den Bauch des Glases, warf Wellen und sah fast so aus, wie ein großer Sturm auf hoher See.
Wenn der Junge doch nur wieder gesund würde. Aber diese juckenden Pustel schienen einfach nicht verschwinden zu wollen. Salben und Tinkturen brachten Nicolas kurzzeitige Linderung, und auch das Fieber konnte man mit Umschlägen in Bahnen halten, aber trotzdem hatte der Junge seit Wochen das Bett nicht mehr verlassen. Das Wasser gluckerte. Noch etwas Öl rein, das schwamm schön obenauf. Schütteln. Gedankenvoll blickte sich Henry Flamel um, um noch eine Zutat für das Gebräu zu finden, denn Nicolas, in seine Decken gewickelt, schaute ihm aufmerksam zu und sagte kein Wort mehr von dieser schrecklichen Geschichte.
Schließlich fand Henry unter einem weiteren unordentlichen Stapel von Pergamentrollen eine verkorkte Glasflasche mit einer seltsamen, in allen Farben schimmernden Flüssigkeit. Sein Gesicht hellte sich auf bei diesem Anblick. Dieses Gebräu sollte eigentlich der Reinigung dienen, aber wenn er es mit dem blauen Wasser mischte, würde das wohl eine faszinierend glitzernde Flüssigkeit zu Nicolas' Beschäftigung ergeben.
Rasch entkorkte Henry Flamel die Flasche, goss etwas von der Säuberungsflüssigkeit in den Glaskolben in seiner linken Hand und verschloss diesen dann.
"Pass mal auf mein Sohn, das wird dir gefallen!", versprach er Nicolas und schüttelte den Kolben. Dann entfernte er den Verschluss schwungvoll und verharrte im gleichen Moment erstaunt über seinem Werk. Aber die runde Öffnung des Flaschenhalses hatte sich ein feiner, schimmernder Film gespannt, der sich zuerst unmerklich, dann immer deutlicher nach oben wölbte. Schließlich hatte die durchscheinende, feuchte Schicht Halbkugelform, stieg noch weiter nach oben, und als Henry Flamel vorsichtig gegen das Gebilde pustete, flog eine allerliebste, bunt schillernde Kugel durch den Raum, drehte sich ein paarmal im Sonnenlicht und zerplatzte dann.
Den ganzen Nachmittag vergnügten sich Vater und Sohn mit der Erforschung der bunten Kugeln, und es dauerte nicht lange, bis sie herausfanden, dass man die Blasen leichter produzierte, indem man den dünnen Flüssigkeitsfilm sich auf einem Drahtring bilden ließ und dann sachte dagegen blies. So konnte man auch nach Lust und Laune die Größe der Kugeln verändern.
Als es schließlich vor den Rundbogenfenstern zu dunkeln begann und Henry Flamel eine Kerze anzündete und seinem Sohn eine gute Nacht wünschte, hatte der Junge kein einziges Mal mehr über Juckreiz geklagt und schon gar nicht nach seiner schrecklichen Fuchsgeschichte verlangt und Henry Flamel schwor sich, dass diese väterliche Geheimwaffe sein und Nicolas' Geheimnis bleiben sollte.
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