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Die Graue Dame

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Ein Schlaflied

Das Buch in ihrer Hand begann leicht zu zittern. Trotz der dicken Pelzhandschuhe, waren die Finger starr vor Kälte. Die hereinbrechende Dämmerung erschwerte das Lesen mehr und mehr. Die Buchstaben begannen zu verschwimmen, verflochten sich ineinander und waren nicht mehr zu unterscheiden. Wie ein eisernes Gitter, schoss es Adina durch den Kopf, ein Gitter hinter dem das Wissen verborgen liegt. Mit einem leichten Seufzen schloss sie das Buch und verstaute es, sehr sorgsam, in ihrer wollenen Tasche. Adina liebte diese Tasche. Ihre Mutter hatte sie ihr zum achten Geburtstag geschenkt, eine große Tasche aus naturfarbener Schafswolle, bestickt mit blauen Kornblumen. Nie sah man die junge Frau ohne dieses Geschenk, stets hing sie ihr über der Schulter und wo immer Adina ein stilles Plätzchen fand, setzte sie sich nieder und zog ein Buch aus der Tasche.
Die graue Dame Ihr Lieblingsplatz war eine alte Trauerweide am Flussufer, deren Äste so tief hingen, dass man viele ungestörte Stunden darunter verbringen konnte. Vom Frühjahr bis in den späten Herbst saß Adina an den Stamm gelehnt und las. Den Sommer über hatte sie meist gefiederte Gesellschaft, ein weißer Schwan schwamm oft im seichten Wasser vor der Weide, oder kam sogar an Land, um sich von ihr Füttern zu lassen. Adina blickte etwas wehmütig auf die spiegelnde Fläche zu ihren Füßen. Der Schwan war schon lange gegangen, Eis hatte seinen Platz eingenommen. Der gesamte See war zu gefroren und glänzte nun ebenso blau wie der Himmel. Ein sehr dunkles Blau. Adina schaute nach oben und sah den ersten Stern am Horizont. Wie schnell doch die Nacht hereinbrach...
Vom langen Sitzen und der klirrenden Kälte fühlte sich ihr Körper steif und schmerzend an. Adina erhob sich und begann vorsichtig die geplagten Glieder zu bewegen. Als ihre Füße wieder bereit schienen sie zu tragen, verließ die junge Frau den See und machte sich auf den Heimweg. Ihr Haus stand abseits vom übrigen Dorf. Ein langer, sandiger Weg führte weg von aller Zivilisation, hinaus in die Dunkelheit. Adina kannte jeden Stein auf diesem Pfad. Befreit atmete sie die kalte Nachtluft und hörte mit einem Prickeln den Reif unter ihren Füßen knirschen. Der Geruch von Holzfeuern und erstem Schnee hing in der Luft. Winter. Adina hatte in dieser Jahreszeit noch nie etwas von Sterben und Trostlosigkeit gesehen, ganz im Gegenteil. Sie liebte den Übergang des Herbstes in das Jahresende. Wenn die Früchte reiften, Blätter sich verfärbten, bis schließlich alles unter der weißen, weichen Decke des Schnees verschwand.
Jeden Tag beobachtete Adina einige ihrer Schüler, wie sie an das Ufer kamen und mit enttäuschten Gesichtern wieder davon zogen. Ja, das Eis war noch nicht fest genug. Die junge Frau lächelte. Sie konnte sich nur zu gut an die Zeit erinnern, als sie und ihre Brüder an besagtem Ufer standen. Die Freude, wenn sich endlich keine Risse mehr in der gläsernen Decke zeigten und sie schnell wie der Wind über den See fegten. Doch die Brüder waren älter geworden und sie, sie auch. Leon und Paul hatten geheiratet, Andreas war Geselle geworden und sie unterrichtete die vielen Kinder in der Dorfschule. Lehrerin. Ein Traum, den Adina gehabt hatte, seit ihr das Wort zum ersten mal begegnet war. Wissen an Kinder vermitteln, ihnen die Welt zu Füßen legen. Es gab so vieles, was man lernen konnte, so vieles zu erfahren und auszuprobieren. Adina selbst war manchmal fast am Verzweifeln. Wenn sie bedachte, wie wenig sie wusste, wie wenig sie je Wissen würde. Warum hatte der Mensch nicht Zeit genug alles zu lernen? Warum war er in seiner Zeit so stark begrenzt? In jeden Ferien versuchte Adina an neue Bücher, neue Schriften zu gelangen. Ihr Vater bemerkte oft mit einem Schmunzeln, dass es eigentlich noch einen zweiten Karren besorgen müsste, der seinige reichte kaum um Adinas Bücher aus der Stadt mit nach Hause zu bringen, geschweige denn, die übrigen Einkäufe zu verstauen.
Nach ungefähr zwanzig Minuten, erblickte die junge Frau ein warmes Licht in der Ferne. Ihre Schritte beschleunigten sich und kurz vor dem Häuschen begann sie zu rennen. Außer Atem und mit geröteten Wangen betrat sie die Hütte. Die aufgeheizte Luft überspülte Adina wie eine warme Welle. Es duftete verführerisch nach gebratenen Äpfeln und aus dem Neben-zimmer drang das Knistern von Holz im Kamin. Geschwind legte Adina ihre Tasche ab, knöpfte den Mantel auf und hing ihn, gemeinsam mit dem Schal und den Handschuhen an einem der Garderobenhaken. Nachdem sie auch Stiefel und Mütze abgelegt hatte, schlich die junge Frau in die Küche. Tatsächlich, da standen sie. Eine große, eiserne Form, gefüllt mit gebratenen Äpfeln. Zimt und Rosinenfüllung quoll aus den Früchten und daneben, auf dem Tisch stand ein großer Krug mit Vanillesoße.
Als sie gerade die Hand ausstreckte um wenigstens einen der kleinen Leckerbissen zu kosten, ließ sie eine schimpfende Stimme innehalten. "Finger weg! Wie alt sind wir denn junge Dame? Du weißt genau, dass die für den Sonntag sind!" Schuldbewusst drehte sich Adina zu ihrer Mutter um, welche im Türrahmen stand. Trotzdem die Worte sehr ernst gesprochen worden waren, umspielte ein Lächeln die Mundwinkel der alten Frau. "Aber Mama," setzte Adina an, "Ich hab doch das Abendessen verpasst." "Da können doch aber die Äpfel nichts dafür." Erwiderte die Mutter mit einem Schulterzucken, schaute ihre Tochter einen Moment lang strafend an und ging dann an den Schrank. Diesem entnahm sie einen Teller und einen Löffel, legte den schönsten Apfel auf das Geschirr, goss etwas Vanillesoße darüber und reichte ihn ihrer Tochter. Mit einem Strahlen setzte sich Adina an den Esstisch und begann genüsslich zu kauen. Mehrere Male wurde dieser Genuss allerdings von einem kleinen Aufschrei unterbrochen. Wirklich furchtbar, dass diese Äpfel immer noch so heiß sein mussten...
Während sie den Apfel hinunter schlang, bemerkte Adina erst, welch großen Hunger sie gehabt hatte, wenn man den ganzen Tag las, konnte sie wirklich die wichtigsten Dinge vergessen. Ihre Mutter sah den, nahezu ausgehungerten Appetit und stellte noch ein paar Scheiben frisches Brot, selbstgemachte Butter und ein Salzfässchen auf den Tisch. Dazu schenkte sie noch einen Becher Met ein. Adina, die sonst auf Alkohol verzichtete, genoss den wärmenden Honigwein und schenkte ihrer Mutter einen liebevollen Blick über den Becherrand hinweg. Nachdem ihre kleine Nachtmahlzeit beendet war, fühlte sich die junge Frau so müde und schläfrig, dass sie, nach einem Gute- Nacht- Kuss für Mutter und Vater, in ihr Bett verschwand. Schon im Halbschlaf überdachte Adina noch einmal das eben gelesene Buch. Vielleicht konnte sie es gleich nach Ferienende in den Unterricht einbauen...
"He!" jemand rüttelte sie unsanft an der Schulter. "Träumst du schon wieder?" Völlig verwirrt öffnete Adina die Augen. Was sie sah ließ in der jungen Frau sofort den Wunsch erwachen besagte wieder zu schließen. Mrs Randals Küche... und sie war eingeschlafen. Adina griff nach den Zündhölzern auf dem Tisch und ging in die Knie. Der Kamin, sie musste das Feuer entzünden. Nach ein paar schnellen Handgriffen loderte eine kleine Flamme auf. Schnell schob Adina das Hölzchen unter ein Blatt Papier. Die Flammen begannen zu züngeln und die, sich ausbreitende, Wärme streichelte über die raue Haut. Adina fröstelte, es war fürchterlich kalt in der großen Steinküche und die junge Frau trug nur ein dünnes Leinenkleid. Doch es blieb keine Zeit zum Frieren. Schnell rückte sie ihr Häubchen zurecht und verließ die Küche. Im ganzen Haus warteten Kamine darauf, genutzt zu werden, beziehungsweise, dass man etwas Holz nachlegte. Adina hastete durch das Gebäude, ihre kleine Schlummerstunde hatte wertvolle Minuten verschwendet. Nur noch eine viertel Stunde, dann würde die gnädige Frau geweckt und diese wollte den Tag sicher nicht in einem kalten Zimmer beginnen...
Als Adina sich gerade an der letzten Feuerstelle zu schaffen machte, läutete das Glöckchen. Hastig ließ sie das Zündholz in den Papierhaufen fallen und lief die Treppen hinunter. "Wo bleibst du nur?" Fuhr die Köchin sie an. Geschickt wich Adina aus, als sich die korpulente Frau an ihr vorbei schob und auf den Tisch in der Mitte der Küche zusteuerte. "Die Herrschaften wünschen Eier, Schinken und frische Backwaren zum Frühstück. Hier hast du, geh zum Bäcker." Sprach sie und drückte Adina einen Korb und etwas Kleingeld in die Hand. Diese schnappte sich ihr Wolltuch vom Haken und sprang die Stufen zum Dienstboten-eingang hinauf. Schon an der Tür empfing sie ein scharfer Wind, unwillkürlich zog Adina das Tuch enger um ihre Schultern. Sie rannte den gesamten Weg zum Bäcker. Zwar schickte sich dies nicht für junge Mädchen, doch war es die einzige Möglichkeit warm zu bleiben.
Vor dem Bäcker hatte sich schon eine kleine Schlange gebildet. Junge Dienstmädchen standen vor dem Geschäft und traten von einem Bein auf das Andere. Es war fürchterlich kalt. Um die niedrigen Temperaturen zu vergessen tauschte man den neusten Klatsch miteinender aus. Schon wieder weniger Lohn? Jaja, wenigstens hatte man Arbeit... Adina schwieg. Sie wusste, ihre Herrin schätzte Tratsch in keiner Weise und sollte ihr dergleichen zu Ohren kommen- nun, Adina mochte lieber nicht daran denken. Stattdessen versank sie wieder in ihren Träumen. Wie schön wäre es doch gewesen... Wie hätte sie jetzt wohl gelebt?
Wer die junge Frau so gedankenversunken auf der Straße gesehen hätte, wäre wohl über ihr Alter ins Grübeln gekommen. Die Figur war schlank, nahe zu zierlich. Ihre Haltung aufrecht und wäre sie gelaufen, hätte man den Gang als geschmeidig charakterisieren können. Also durch und durch ein junges Mädchen, doch ihr Gesicht. Tiefe Sorgenfalten lagen um den Mund, die Haut war trocken und rissig und ihr Augen... Tief, tief in dem dunklen Blau glänzte irgendwo noch ein kleines Fünkchen, ähnlich einem Stern. Doch dieser war von so viel Traurigkeit überschattet, dass er nur selten zu entdecken war. Das Leid ihres ganzen Lebens lag in Adinas Augen. Stets blickten sie ernst und schmerzvoll. Nur in Moment, wenn sie sich in ihre eigene Welt zurück zog, wie an diesem kalten Wintermorgen vor dem Bäckerlädchen, da schienen der Blick wie von einem Nebel verschleiert. In solchen Augenblicken dachte Adina daran, wie es hätte sein können. Wie ihr Leben verlaufen wäre.
Was, wenn das Haus nicht in Flamen gestanden hätte, als sie damals, spät abends, Heim gekehrt war. Würde sie sich heute trotzdem ihr Brot als schlecht bezahltes Dienastmädchen verdienen müssen? Hätte sie nicht die Schule abbrechen müssen um in die Stadt zu ziehen? Adina wusste es nicht. Nur eines war sicher. Ohne jenes verhängnisvolle Ereignis, würde sie nicht Nacht für Nacht aufwachen, gejagt von den Todesschreien ihrer Eltern und ihrer Brüder. Gefangen in einer Hölle aus Rauch und Flammen, dem Tod hilflos ausgeliefert. Wie viele Tränen mochte ihr Kissen wohl schon verschluckt haben? Wenn sie nachts in der Dunkelheit lag und verzweifelt versuchte die Erinnerungen lautlos zu ersticken.
Beinahe hätte Adina um zweiten Mal an diesem Morgen geweckt werden müssen. Gerade noch rechtzeitig bemerkte sie, dass die Verkäuferin bereit war ihre Bestellung entgegen zu nehmen. Schnell erledigte Adina den Einkauf und eilte dann nach Hause, die Herrin mochte es nicht, wenn sie auf ihr Frühstück warten musste. Der Rest des Tages verlief für die junge Frau, wie jeder andere in der Woche. Kinder zur Schule geleiten, Betten machen, Fenster und Spiegel putzen, Läufer klopfen, Kartoffeln schälen, Tische decken, Geschirr spülen und Polieren, Tee servieren, den Hund spazieren führen, Markteinkäufe, die Kinder wieder von der Schule holen, erneut die ganze Tischgeschichte, ab und zu Holz nachlegen, Badewasser vorheizen und schließlich die Küche aufräumen. Völlig erschöpf fiel Adina spät nachts auf ihre schmale Holzliege. Das Zimmerchen lag direkt unter dem Dach und ein starker Sturmwind rüttelte an den Schindeln. Doch Adina hörte nichts mehr. Kaum das ihr Körper das harte Lager berührt hatte, war sie schon in tiefen Schlaf gesunken.
Nach ganzen vier Stunden Schlaf wurde die junge Frau von einem lauten Klopfen an ihrer Tür geweckt. "Aufstehen ihr verdammten Faulpelze!" Mehr schlafend als wachend, zog Adina ihr leicht verknittertes Kleid zurecht, steckte die Haare hoch und setzte ihr Häubchen auf. Noch ein kurzer Blick in den gesprungenen Spiegel an der Wand und... Perfekt. Bei Mondlicht sah doch alles gleich viel hübscher aus, dachte Adina lächelnd bei einem Blick aus der kleinen Dachluke. Dann entzündete sie die Kerze auf dem Tischen, nahm den Kerzenhalter und trat in den Flur. Scheinbar war sie dank der Nicht- Auszieh- Methode die Erste. Vorsichtig machte sich Adina daran, die schmale Treppe hinunter zu steigen. Trotz des Kerzenlichtes bargen die heimtückischen Stufen immer noch ein kleines Restrisiko, doch Adina gelangte unbeschadet an den Fuß der Treppe.
Ein kurzer Blick auf den Kalender am Treppenabsatz ließ sie innehalten. Der sechsund-zwanzigste November- nur noch vier Tage bis zur Lohnauszahlung. Adinas Herz machte einen kleinen Sprung. So lange, so unendlich lange sparte sie schon darauf und jetzt endlich, würde sie genug Geld für ein Buch haben. Endlich wieder ein Buch. Zu Hause hatte Adina schon eine kleine Bibliothek besessen, doch, wie alles, das sie liebte, war auch diese den Flammen zum Opfer gefallen. Nur eines hatte noch in ihrer kleinen Wolltasche gesteckt und diese hatte man ihr genommen, als Endgeld für die Fahrt in die Stadt. Adina sah ihre Träume plötzlich etwas näher rücken. Es war ja nicht nur das Buch. Ab Weihnachten sollte sie etwas mehr Lohn bekommen, genug Geld, um an ihrem freien Tag kleine Kurse besuchen zu können. Wissenserwerb war schon immer Adinas liebste Beschäftigung. Nie hatte sie zum Tanz gehen wollen, nie ein Techtelmechtel gehabt, aber Wissen... Würde es auch nur eine Möglichkeit geben ewig lernen zu können, Adina hätte sie ergriffen.
Mit Bedauern löste sich Adina von dem Kalender und der dazugehörigen Verheißung und lief hinunter in die Küche, wo ein neuer Arbeitsalltag begann. Gegen Mittag läutete es an der Haustür. Da sich Adina gerade in der Veranda aufhielt, strich sie ihre Schürze glatt und öffnete. Ein Junge stand vor der Tür. Er trug eine dunkelrote Botenuniform und hielt einen Brief in der Hand. " Ein Eilbrief an den Herrn des Hauses." verkündete er in einem Ton, der viel zu erwachsen für sein junges Alter war. Da die Nase des Jungen beinahe ebenso rot war, wie seine Uniform, bat Adina ihn herein. Der Bote trat glücklich einen kleinen Schritt in die Wärme, während sie selbst sich auf die Suche nach der Köchin machte. Besagte verwaltete das Haushaltsgeld und gab Adina eine kleine Summe, welche diese dem Jungen überbrachte. Er bedankte sich mit einem kleinen Diener und verschwand wieder hinaus in die Kälte. Adina legte den Brief auf ein Silbernes Tablett und brachte ihn ihrem Herrn. Dieser mochte an seinem arbeitsfreien Tag ungern gestört werden, doch als er den Absender las, verstummte sein Gebrummel. Mit einem Wink bedeutete er Adina zu gehen und zog sich an seinen Schreibtisch zurück. Im Laufe des Tages vergaß Adina den Brief und dachte erst wieder daran, als sie am nächsten Tag mit dessen Inhalt konfrontiert wurde.
Es war der Nachmittag des nächsten Tages. Adina half gerade in der Küche, als ein Glöckchen klingelte. Eines der andren Dienstmädchen lief hinaus und kehrte bald darauf mit der Nachricht zurück, dass sich bitte alle im Salon der gnädigen Frau zu versammeln hätten. Sofort brach ein aufgeregtes Tuscheln in der Küche aus, welches aber durch ein paar scharfe Worte der Köchin unterbunden wurde. Adina folgte den andren hinauf. Im Salon angekommen stellte sie sich möglichst weit hinten an die Wand. Etwas solides im Rücken zu haben, gab ihr für wenige Minuten die Illusion von Sicherheit. Die Rede der Herrin war kurz und schmerzvoll. Ihr Gemahl war Fabrikbesitzer. Derzeit gab es ein paar Engpässe in der Produktion, das bedeutete Lohnsenkungen, Entlassungen und leider auch einige Kürzungen im Haushalt. Sie verlas eine kleine Liste mit Namen, wünschte den Genannten viel Glück und verabschiedete die Frauen. Adina verließ das Zimmer wie in Trance. Wieder und Wieder hörte sie ihren Namen. An vorletzter Stelle hatte er gestanden, nur zwei Plätze entfernt von der Rettung. Unendlich langsam erstieg sie die vielen Stufen hinaus zu ihrem Zimmer. Dort angekommen verstaute sie ihre paar Habseligkeiten im Bettuch, knüpfte dieses zusammen und machte sich wieder auf den Weg nach unten, Abmeldung bei der Köchin. Da der Monat noch nicht zuende war, bekam sie kein Gehalt. Kaum eine viertel Stunde nach der Verkündigung ihres Namens, stand sie draußen auf dem Bürgersteig, nur mit einem Bündel beladen und blickte in den klaren Winterhimmel.
Das gesparte Geld reichte noch fast einen Monat. Trotzdem Adina jeden Tag gehungert hatte, um sowenig wie möglich zu verbrauchen, stand sie am dreiundzwanzigsten Dezember mit leeren Händen auf der Straße. Den ganzen Tag irrte sie ziellos durch die Stadt, um irgendwo weihnachtlich eingestimmte Mensche zu finden, doch umsonst. Die Kälte des Winters war nichts im Vergleich zu der Kälte in den Herzen der Großstadtmenschen. Sie hasteten und drängten durch die Straßen, ständig auf der Suche nach einem letzten Geschenk, blind für die Nöte anderer Menschen. Auf Grund der tiefen Temperaturen waren auch die Armenhäuser und Notunterkünfte restlos überfüllt, sodass Adina gegen Abend noch nicht einmal ein warmes Plätzchen zum Schlafen fand.
Am nächsten Morgen erwachte sie halb erfroren und kaum noch in der Lage sich zu bewegen. Von Kälte und Hunger in einen schwindelähnlichen Zustand versetzt wanderte sie ein letztes Mal durch die Stadt. Bis zum Sonnenuntergang hatte sie die Hoffnung auf Hilfe nicht aufgegeben. Die dreckigen Lumpen hingen erfroren an ihrem dünnen Körper und ihre Hände waren blutig zerrissen von Kälte und Stein. Als der Himmel langsam in rosa getaucht wurde, lies sich Adina auf einer Bank am Rande des Flusses nieder. Sie trat an das Wasser, schlug ein wenig von dem, sich am Ufer gebildeten Eis ab und begann Gesicht und Hände zu reinigen. Dann kehrte sie zu ihrem Bündel zurück, zog das Sonntagskleid hervor und streifte es über. Ohne noch einen letzten Blick an das übrige Bündel zu verschwenden, wandte sich Adina der großen Brücke zu. Auf dem Weg dorthin summte sie das Schlaflied, welches ihre Mutter oft gesungen hatte. Ade, zur Guten Nacht... In der Mitte der zweiten Strophe verblasste der Text, doch da stand Adina schon auf dem eisernen Geländer der Brücke. Mit einem letzten Blick zum abendlichen Himmel, ließ sie sich in die dunklen Fluten fallen. Ihr leichte Körper wurde sogleich vom Strom ergriffen. Der kleine Stern in ihren Augen erlosch, doch die Traurigkeit blieb für immer.

by an innocent sly

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