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Sir Nicholas

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Stärke, sich selbst zu überwinden

Er saß in der steinernen Fensternische und schaute auf die Hügel herab. Zwischen den Grüntönen der Wiesen schlängelte sich ein kleiner Bach. Nicholas folgte ihm mit den Augen, bis sich das blaue Fädchen in der Ferne verlor. Wie weit das Land doch war. Selbst von der Burg aus, die höher lag als die übrige Umgebung, konnte man die angrenzenden Hügelketten nicht überblicken. Alles verschwamm im weit entfernten Horizont, aus dem soeben die Sonne auftauchte.
Nicholas löste sich aus der Starre, sein Körper war vor Kälte ganz steif. Bevor er ins Bett zurückkehren konnte, wurde die Tür geöffnet. Drei Dienerinnen schlüpften hinein und begannen ihn zu waschen und anzukleiden. Wortlos ließ Nicholas die morgendlichen Rituale über sich ergehen. Es dauerte länger als üblich, denn heute war ein besonderer Tag. Als der Kammerdiener eintraf, um ihn in den Speisesaal zu begleiten, waren die Vorbereitungen gerade abgeschlossen. Das Frühstück verlief an diesem Morgen ebenso schweigend wie an allen anderen. Der Herzog erschien seit dem Tod Wilhelms nicht mehr am Tisch, der Verlust des ältesten Sohnes hatte seinen Krankheitszustand noch verschlimmert.
Sir Nicholas Nicholas trauerte nicht allzu sehr um seinen Bruder. Sie hatten sich kaum gekannt. Wilhelm war zum Erben von Burg und Titel erzogen worden, während man Nicholas sich selbst überlassen hatte. Beide wurden älter, der eine heiratete und übernahm die Kriegspflichten des Vaters, der andere beschäftigte sich Tag aus, Tag ein mit jagen und lesen. Manchmal träumte Nicholas von Abenteuern, die er in der Welt bestehen könnte, aber sein Mut setzte entscheidende Grenzen. Er zog es vor in Sicherheit und Wohlstand zu leben, statt auf dem Rücken eines Pferdes ständiger Kälte und Lebensgefahr ausgesetzt zu sein. Seiner Ansicht nach verlief sein Leben genauso, wie es sollte, jedenfalls, bis zu letzten Winter.
Der halbe Hof fiel zu dieser Zeit den Pocken zum Opfer und auch Wilhelms dreijähriger Sohn und seine erneut schwangerer Frau blieben nicht verschont. Man hatte sich von dem plötzlichen Schock und der Angst noch gar nicht zu erholen begonnen, als plötzlich Krieg ausbrach. Das Heer war stark geschwächt und vor zwei Wochen war ein Bote eingetroffen, der vom Tod Wilhelms berichtete. Der alte Herzog brach daraufhin zusammen und übergab jegliche Entscheidungsmacht in die Hände seiner Gemahlin.
Die Herzogin hatte meist die politischen Entscheidungen ihres Mannes gelenkt, sodass sie nun schnell und diplomatisch eine Hochzeit für Nicholas arrangierte. Diese Ehe sollte neue Gelder für das Land einbringen und gleichzeitig den Fortbestand des Geschlechts sichern. Die Fürstentochter Elvira von Glace war die ideale Partie. Schnell waren Heiratstermin und Mitgift ausgehandelt. Die Trauer um Wilhelm wurde aufgehoben und alles stürzte sich in Hochzeitsvorbereitungen. Die Schlossbewohner konnten es kaum erwarten und heute war endlich der Tag gekommen, an dem Elvira am Hofe eintreffen sollte.
Nicholas und seine Mutter hatten kaum das Frühstück beendet, als von weitem Fanfahren und Rufe die Ankunft ankündigten. Der gesamte Hof war schon am Tor versammelt, als Nicholas sich dazu gesellte. In geringer Entfernung näherte sich eine Kolonne von Kutschen, die mit berittenen Soldaten umgeben war. Sie kamen rasch heran, durchfuhren das Tor und blieben in der Mitte des Burghofes stehen. Ein Diener öffnete die Tür einer Kutsche, welche reicher verziert war als die übrigen. Die versammelte Menge wurde plötzlich so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Eine Minute verstich, bis sich endlich ein Schatten aus dem Inneren der Kutsche löste.
Eine Frau, bedeutend jünger als Nicholas, stieg hinaus und stellte sich der Menge gegenüber. Ihr Kopf war erhoben und trotz der zierlichen Gestalt hatten die Menschen den Eindruck als würde sie auf die Menge herab blicken. Nicholas ging auf sie zu, verbeugte sich förmlich und gab ihr einen Handkuss. Als er sich wieder aufrichtete, blickte er direkt in ihre eisblauen Augen, die ihn abschätzend musterten. Nicholas überlief ein Schauder, diese Frau wirkte selbst wie Eis, sogar ihr blondes Haar glänzte silbern im goldenen Licht der Sonne. Die Herzogin ergriff die Initiative und führte die Gesellschaft in den gelben Salon. Elvira wurde von ihrer Mutter, der Hauslehrerin und einer Zofe begleitete. Nicholas Mutter läutete nach Tee, bevor sie sich dem Gespräch zuwand.
Am Anfang tauschten alle einige Höflichkeiten aus, doch schon bald waren die Frauen in die Hochzeitsvorbereitungen vertieft. Nicholas saß an der Seite und beobachtete die Gruppe. Seine Zukünftige schien eine ausgesprochene Dominanz zu besitzen. Trotz ihrer zarten Erscheinung kam selbst die Herzogin kaum gegen sie an. Nicholas hatte neben seiner Mutter noch nie eine Frau erlebt, die es dermaßen gewohnt war, alles zu bekommen, was sie wollte. Wahrscheinlich würde seine Ehe ähnlich wie die seines Vaters laufen, er selbst in der untergeordneten Rolle. Ihm war es egal, er wollte nur weiterhin jagen, lesen und in Ruhe leben. Dieser Wunsch sollte für ihn schon bald an Bedeutung gewinnen.
Am nächsten Abend planten die Damen einen Ball, um die Verlobung öffentlich bekannt zu geben. Trotz der Epidemie im Vorjahr war der Festsaal erstaunlich gefüllt. Beim Eintritt blendeten Hunderte von Kerzen die Augen der Besucher, das Licht wurde in den Kristallen an den Kronleuchtern vervielfacht. Die Halle strahlte und leuchtete, nichts war mehr von der Trauer um Wilhelm geblieben. An der großen Tafel in einem Teil des Raumes wurde reichlich aufgetragen. Nicholas ermüdete das schwere Essen und das ständige Gerede seiner Begleiterin. Ihre Stimme war schrill und laut, sodass er nicht in der Lage war sie zu überhören. Das Essen schien sich unerträglich auszudehnen, die Menschen genossen die erheiterte Stimmung nach der schweren Zeit, die sie gehabt hatten.
Als er es nicht mehr ertragen konnte, stand Nicholas auf und beendete die Mahlzeit. Er trat zu Elvira und bat um den ersten Tanz, somit war der Ball eröffnet. Durch die offenen Kamine und die große Menschenmenge erhitzte sich die Luft im Saal rasch. Von den schnellen Tänzen erschöpft, begann Nicholas nach Luft zu ringen. Er hasste das, diese Hektik. Eine ruhige Gesellschaft zu geben, wo man gepflegt Konversation betreiben konnte, ein Glas Whiskey in der Hand, das war seine Vorstellung von Unterhaltung. Nicholas liebte es über die Jagderfolge zu plaudern und Anekdoten auszutauschen, dieses wilde Herumgespringe widerstrebte ihm zutiefst.
Als der Saal um ihn herum begann, sich immer schneller zu drehen und die Menschen nur noch ein Gemisch aus Farben und Licht waren, verließ Nicholas den Ball. Seine Mutter bemerkte nicht, wie er sich durch eine Seitentür hinaus stahl, und Elvira, umringt von einer Gruppe junger Männer, beachtete sein Verschwinden kaum. Nicholas trat in den dunklen Gang und sog erleichtert die frische Luft ein. In einigen Metern Entfernung fiel etwas Mondlicht durch die kleinen Fenster. Er tastete sich zu dem ersten Lichtfleck auf dem Steinboden und stieß plötzlich gegen etwas Weiches. Erst war ein unterdrückter Aufschrei zu hören, dann ein Rascheln, dass sich schnell entfernte.
Nicholas folgte dem Geräusch, er rannte durch die dunklen Flure, stolperte an einigen Stufen und gelangte schließlich durch ein Seitenportal hinaus in den Schlosspark. Seine Augen mussten sich an die plötzliche Helligkeit gewöhnen, der Vollmond tauchte alles in sein silbernes Licht. Der Garten wirkte plötzlich ganz fremd, Nicholas ging über die eigentlich so vertrauten Wege und fühlte sich wie ein Eindringling in einer fremden Welt. In einiger Entfernung stand die kleine italienische Bank zwischen den Rosen und auf ihr saß eine Frau. Sie hatte Nicholas den Rücken zugewendet, ihr Haar war sorgfältig aufgesteckt und das Kleid schien ein einfaches Tagesgewand. Nicholas, erstaunt über die fremde Gestalt, trat neugierig an die Bank. Sie schien die Bewegung gehört zu haben, wendete sich ihm zu und schreckte zurück. Er hob beschwichtigend die Hände, stellte sich vor und fragte, ob er sich neben sie setzen dürfte. Sie antwortete mit einem leichten Nicken und schlug die Augen nieder. Eine Zeit lang saßen sie schweigend nebeneinander, bis Nicholas das Wort ergriff.
"Es mag vermessen klingen, aber dürfte ich erfahren, wer Ihr seid?". Erstaunt hob sie den Kopf.
"Verzeiht, ich dachte das wüsstet Ihr, ich bin Elviras Hauslehrerin". Natürlich, er hatte der stillen Person im Hintergrund am Vortag keine Beachtung geschenkt, doch nun musterte er sie genauer. Das Gesicht war schmal und erst das Mondlicht ließ einige Sommersprossen auf der Nase erkennen. Ihre Haare, beim letzten Mal sorgfältig unter der Haube versteckt, waren selbst bei der schemenhaften Beleuchtung als feuerrot auszumachen. Er wusste nicht warum, doch er hatte plötzlich den Wunsch, sie bei Tageslicht noch einmal genau betrachten zu können. "Darf ich fragen, warum Ihr nicht auf dem Fest seid?" begann er das Gespräch erneut.
Sie sah eine Zeit lang vor sich hin und begann dann mit sanfter, leiser Stimme zu erzählen, dass sie lauten, hektischen Menschen abgeneigt war. Sie zog die Stille der Nacht und die Einsamkeit der Natur dem lauten Treiben vor. Nach dieser Erklärung versanken beide wieder in Schweigen. Doch es war keine unangenehme Stille, wie sie entsteht, wenn man sich nichts zu sagen hat, eher schienen beide die Gefühle des anderen zu kennen und genossen die laue Nacht. Keiner bemerkte, wie die Stunden verstrichen und es allmählich kühler wurde, erst als Nicholas ein leichtes Zittern neben sich bemerkte, beschloss er, dass es Zeit war, in die Burg zurück zu kehren. Er stand auf und reichte ihr seinen Arm. In dem Gang vor ihrer Kammer wünschten sie sich eine Gute Nacht. Nicholas sah dabei in ihre Augen, sie waren grün wie die Hügel vor dem Schloss und schienen ein warmes Licht auszustrahlen.
Als er sich gedankenverloren vor seinem Bett auszukleiden begann, fiel ihm ein, dass er noch nicht einmal ihren Namen kannte. Dieser Gedanke beschäftigte ihn bis zum Einschlafen. Der nächste Tag kam rasch, die Dienstboten wirkten müde und übernächtigt und waren größtenteils mit der Beseitigung der Ballreste beschäftigt. Nicholas bekam die Lehrerin in den folgenden Tagen nicht zu Gesicht. Am Anfang überraschte ihn ein unbekanntes Gefühl, wenn er an sie dachte, doch das verebbte nach und nach. Letztendlich erschien ihm die Nacht im Park nur noch wie ein unrealistischer Traum. Erst anderthalb Wochen nach dem Fest sahen sie sich wieder.
Ein Diener betrat vor ihm das Schulzimmer und kündigte an, dass Sir Nicholas gekommen sein, seine Verlobte zur Jagd abzuholen. Elvira packte eilig ihre Sachen zusammen, die Lehrein stand abseits am Fenster. Als Nicholas ins Zimmer kam, machte sie einen leichten Knicks. Er blieb wie erstarrt stehen, überwältigt von einer Welle aus Freude, Wärme und einem leichten Schwindelgefühl. Nur mit Mühe unterdrückte er den plötzlichen Impuls, sie in seine Arme zu schließen. Elviras Stimme zerriss die Verzauberung, sie hatte ihr Sachen ordentlich verstaut und war bereit für die Jagd. Nur widerwillig folgte Nicholas ihr in die Ställe.
Die Burschen hatten die Pferde bereits gesattelt, einer von ihnen bemerkte, dass es wahrscheinlich Regen geben würde, doch Nicholas beachtete ihn nicht. Die Gesellschaft unterhielt sich gut, schönes Wild war in den letzten Tagen häufig gesichtet worden und alle hofften auf eine gute Beute. Schon bald sahen sie die ersten Tiere, aber keines entsprach Elviras Vorstellungen. Frauen waren eigentlich zur Jagd nicht zugelassen, doch auch ohne die Herrin des Hauses zu sein, verstand sie es ihren Willen durchzusetzen. Als sie an einer Wasserstelle Rast machten, um den Pferden eine Pause zu gönnen, fielen die ersten Tropfen. Die Männer begannen zu fluchen, beherrschten sich aber nach einem Blick auf Elvira. Nicholas brach die Jagd offiziell ab. Wie zum Hohn tauchte in diesem Moment ein Hirsch aus dem Gebüsch auf. Ein schönes Tier, groß, mit prächtigem Geweih. Er blickte sich kurz auf der Lichtung um, machte dann kehrt und verschwand wieder im Wald. Noch ehe sie jemand hätte aufhalten können, hatte Elvira sich auf ihr Pferd geschwungen und war dem Tier ins Unterholz gefolgt.
Nicholas rief umsonst. Der Regen verstärkte sich und die Suche der Männer wurde immer verzweifelter. Das Wetter war zu einem regelrechten Sturm umgeschlagen, als man Elvira endlich fand. Ihr dünnes Jagdkostüm war völlig durchnässt. Mit dem Hirsch hatte sie auch den Weg verloren und war so orientierungslos im Wald herum geirrt. Nicholas brachte das heftig zitternde Mädchen zurück in die Burg, noch am Abend bekam sie Fieber. Er blieb mit ihrer Mutter am Bett wachen. Das Fieber stieg zusehendst, sodass sie in der Nacht einen Arzt holten. Dieser war über Elviras Zustand entsetzt und ordnete sofort einen Aderlass an.
Als er das Messer ansetzte, stürzte die Lehrein ins Zimmer. Ihre Augen glühten dunkel, das Gesicht war vor Zorn ganz weiß und einige rote Locken hatten sich unter der Haube gelöst. Wütend schlug sie dem Arzt das Messer aus der Hand, schob ihn mit ungeahnter Kraft aus der Tür und verriegelte diese. Jeden Einwand erstickte sie mit der scharfen Bemerkung, dass sie nicht zulassen würde, dass man Elvira tötete. Elviras Mutter und Nicholas ließen sich daraufhin wieder in ihre Sessel sinken und die junge Frau fiel in ihre gewohnte Sanftheit zurück. Sie untersuchte Elvira sorgfältig und schickte dann nach einem Diener. Dieser kam bald darauf mit Wasser, einem Kessel und einem kleinen Kasten zurück. Die Lehrein entnahm ihm einige Kräuter, kochte diese mit Wasser auf und verabreichte den Trank Elvira. Der rasselnde Atem des Mädchen begann sich zu beruhigen. Ihre Mutter erlag bald der Müdigkeit.
Nicholas wagte nicht aufzusehen, gemeinsam saßen sie am Bett, bis es zu dämmern begann. "Darf ich nach eurem Namen fragen?" flüsterte er endlich. "Elisabeth" erwiderte sie leise. Mehr sprachen sie nicht, doch wieder war es, als hätten sie all das erzählt, was sie noch nie einem Menschen anvertraut hatten. Ihr Name tanzte Nicholas den ganzen Tag wie eine Melodie durch die Gedanken und gab ihm Kraft. Elviras Zustand verschlechterte sich erneut, sie schien in einen tiefen Schlaf gesunken. Der flache Atem und sich ständig erneuernder kalter Schweiß waren die einzigen Lebenszeichen. Fast vier Wochen kämpften sie um das Mädchen, wechselten sich mit dem Schlafen ab.
Nicholas begriff, dass er Elvira mehr in sein Herz geschlossen hatte, als ihm bewusst gewesen war. Während sie klein und zerbrechlich vor ihm lag, fürchtete er ihren Tod fast ebenso sehr wie die anderen beiden. Die Zeit, in der die Mutter schlief, lenkte etwas von der Sorge ab. Den ganzen Tag fühlte er Elisabeths Anwesenheit wie einen schützenden Schleier, und in diesen Momenten war sie Quelle neuer Energie. Im Laufe der Nächte begannen sie sich zu unterhalten. Elisabeth fragte Dinge, die Nicholas sprachlos werden ließen.
Ihre Rede war frei von höfischer Falschheit und Etikette. Jeder Satz schien verständlich und logisch, aber dachte Nicholas ihn selbst, wirkte er völlig verrückt. Ob er im Morgengrauen schon einmal barfuss über die mit Tau bedeckten Wiesen gelaufen war und dabei die Kraft der Erde gespürt hatte. Ob er das Gefühl kannte, wenn man über einem Abgrund hing und keinen Halt fand. Ob er wusste, wie es ist, auf einem Feld dahin zu jagen, ohne jedes Ziel vor Augen. Nicholas irritierten diese Fragen. Er kannte nichts außer der Burg und die angrenzenden Ländereien, hatte sein Leben gelebt wie es war, Tag ein, Tag aus. "Stellt Ihr Elvira auch solche Fragen?" "Oh nein, Elvira lernt lesen, schreiben, musizieren, zeichnen und etwas Allgemeinwissen." Allgemeinwissen? Was ließ sich darunter verstehen? Vorsichtig hakte Nicholas nach und Elisabeth begann zu erzählen. Er hätte ihr ewig zuhören können: Sagen der Antike, Medizinisches Wissen über Pflanzen, Tiere aus fernen Ländern, Anekdoten über berühmte Herrscher, geographische Beschreibungen, der Kreis der Sternbilder und noch vielmehr. Die junge Frau schien Wissen über die ganze Welt zu besitzen und doch konnte sie nicht älter als achtzehn sein. Aber auch die gemeinsamen Stunden änderten nichts daran, dass die Anstrengung ihre Spuren hinterließ, beide waren müde und erschöpft.
In der vierten Woche waren sie fast ebenso blass wie Elvira und hatten dunkle Ringe unter den Augen. Elisabeth versuchte zu erzählen, doch die Stimme versagte ihr. Deshalb griff sie nach dem Lappen um Elvira den Schweiß von der Stirn zu wischen. Nicholas wollte der Kranken in diesem Augenblick die Haare aus dem Gesicht streichen und so lagen ihre Hände plötzlich aufeinander. Es war wie ein kleiner elektrischer Schlag, beide zuckten zusammen, aber keiner zog die Hand zurück. Sie schauten sich an und auf einmal waren ihre Gesichter so nahe, dass er ihren Atem spürte. Der innere Druck schien ihn zu zerreißen, aber in diesem Augenblick drang ein leises Stöhnen aus den Kissen zu ihnen. Beide schraken zurück und Elvira stöhnte erneut. Langsam, ganz langsam, als würde es ihre gesamte Kraft kosten, öffnete sie die Augen.
Elisabeths Gesichtsausdruck wandelte sich schlagartig von Verwirrung zu Freude, Tränen der Erleichterung liefen über ihr Gesicht, als sie Elviras Mutter weckte. Gesund war das Mädchen natürlich noch nicht, aber nun war sie außer Gefahr. Unter Nicholas und Elisabeths Fürsorge erholte sie sich rasch. Besonders die Zuwendung ihres Verlobten, schien die Heilung zu beschleunigen. Seit sie wusste, dass Nicholas wochenlang an ihrem Bett gewacht hatte, betrachtete sie ihn mit einem Blick, der mehr als Dankbarkeit ausdrückte. Die Nachricht ihrer Genesung verbreitete sich schnell in der Burg und dem angrenzenden Dorf, doch es war nicht nur ein Gerücht, dass von Mund zu Mund wanderte.
Sämtliche Bedienstete begannen sich Elisabeth gegenüber abweisend, wenn nicht sogar feindlich zu verhalten. Als Elvira das bemerkt, stellte sie eine ihrer Zofen zur Rede. Die Erklärung war einfach, nach Elisabeths beleidigender Handlung hatte der Arzt im Dorf erzählt, die zukünftige Herzogin würde von einer Hexe behandelt. Um diesen Behauptungen entgegen zu wirken, begann Elvira, sobald sie sich dazu in der Lage fühlte, Besuche im Dorf zu machen. Sie wurde zu einer von allen verehrten Wohltäterin und galt bald für beliebter als die eigentliche Herzogin. Zu der Hochzeit mit Nicholas erschien fast das ganze Dorf um dem Brautpaar zuzujubeln. Die Gerüchte um Elisabeth hielten sich, doch aus Liebe zur neuen Herzogin forderten die Menschen keine Handlungen.
Elvira war seit der Krankheit ruhiger und ausgeglichener. Nicholas liebte sie, wie er eine kleine Schwester geliebt hätte, aber nicht als seine Frau. Dennoch kam er den ehelichen Pflichten nach. In der ersten Zeit schaffte er es Elisabeth aus dem Weg zu gehen, doch bald wurde sein Verlangen nach ihrer Nähe so groß, dass er sie sehen musste. Trotz des Gefühls, Elvira zu hintergehen, trafen sich die beiden bald regelmäßig. Wenn sie zusammen waren, berichtete Nicholas von seinen Problemen, Elisabeth erzählte Geschichten oder sie lauschten gemeinsam der Stille. Wenn ihre Gedanken auch verbunden waren, so kamen sie sich körperlich nicht nahe. Bis zu dem Abend, der alles änderte.
Sie saßen gemeinsam in Nicholas Arbeitszimmer, beide griffen nach dem Wasserkrug, durstig vom langen Gespräch und da war sie wieder, die elektrifizierende Berührung. Zur selben Zeit hatte sich Elvira im anderen Teil der Burg mehrfach übergeben. Schon seit einigen Tagen behielt sie die Mahlzeiten kaum bei sich und befürchtete eine erneute Erkrankung. Ihre Zofe lächelte nur milde.
"Nein Madame", sagte sie kopfschüttelnd, "ihr seid nicht krank, ihr seid guter Hoffnung". Elviras sonst so kaltes Gesicht wich plötzlich einem Leuchten. Sie würde ein Kind bekommen. Sie würde Nicholas ein Kind schenken. Er musste es erfahren. Elvira hastete durch die Flure und stürzte völlig außer Atem ins Arbeitszimmer. Sie stockte mitten im Luftzug, vor den Schreibtisch standen Nicholas und Elisabeth eng umschlungen. Sie wichen im Bewusstwerden des plötzlichen Geräusches auseinander, doch es war zu spät. Elvira hatten den Kuss gesehen. Sie drehte sich um und rannte aus dem Zimmer. Nicholas war im ersten Moment nicht fähig sich zu bewegen, dann löste er sich aus der Erstarrung und folgte seiner Frau. Elvira war für den Rest des Tages unauffindbar, schließlich ging Nicholas in den Park und dachte über seine Situation nach.
Er könnte mit Elisabeth fliehen, aber das würde bedeuten, dass er das Leben führen müsste, was er nie gewollt hatte. Es war soviel einfacher Elvira um Verzeihung zu bitten und zu hoffen, dass sie ihnen beiden vergeben würde. Als es Abend wurde, kehrte er in die Burg zurück. Elvira wartete im Schlafzimmer, sie wirkte ruhig und gefasst.
"Wir erwarten ein Kind. "
"Ihr verzeiht uns!", er schloss sie in die Arme. Elvira blieb steif.
"Ich verzeihe dir, sie hat dich verhext, morgen kommen die Dorfleute und werden sie hinrichten." Nicholas zuckte zurück, sein Gesicht war kalkweiß, entsetzt schaute er in ihre Augen, doch die waren wie aus Glas.
"Das werde ich verhindern." Ihr Mund verzog sich zu einem grausamen Lächeln, das übrige Gesicht blieb starr. Langsam ging sie auf ihn zu.
"Du hast keine Macht über sie. Entscheide dich für mich und das Kind, oder stirb gemeinsam mit ihr."
Nicholas bewegte sich nicht. Plötzlich war Geschrei von außen zu hören, die aufgebrachte Menge kam noch in der Nacht. Nicholas drehte sich um und rannte in den Gang. Er sah Elvira nicht zusammenbrechen, hörte den entsetzten Aufschrei nicht. In dieser Nacht verlor sie ihr Kind.
Nicholas hetzte die Flure entlang und betrat Elisabeths Kammer in dem Augenblick, indem die Meute das Tor aufbrach.
"Schnell, wir müssen hinaus! Sie wollen dich töten, sie denken du seiest eine Hexe." Elisabeth blieb ruhig stehen.
"Ich weiß", sagte sie endlich, "Sie haben Recht. Wir entkommen ihnen nicht. Geh zurück zu deiner Frau, Nicholas, sag, es wäre meine Schuld gewesen und werde mit ihr glücklich. Es tut mir leid." Mit diesen Worten beugte sie sich zu ihm, gab ihm einen Kuss und verschwand.
Nicholas begriff es im ersten Moment nicht, ihr Körper wurde plötzlich durchsichtig und löste sich dann ganz auf. Nicholas blieb wie versteinert stehen. Er hatte sich noch nicht bewegt, als die bewaffneten Männer ins Zimmer kamen. Als man vergebens nach Elisabeth gesucht hatte, fragten ihn die Menschen, ob er verzaubert worden sei. Nicholas schwieg einige Minuten, dann antwortete er, dass er eine Hexe liebe, sie bis in den Tod lieben würde und keine Macht der Welt ihn davon abbringen könnte.

Am Abend des einunddreißigsten Oktobers vierzehnhundertzweiundneunzig wurde Sir Nicholas de Mimsy-Porpington im Licht der untergehenden Sonne geköpft. Als der Henker mit dem Schwert zuschlug, gelang es ihm auch nach mehreren Hieben nicht, den Kopf vollständig vom Körper zu trennen. Herzogin Elvira war die Einzige, die ihr Gesicht vor dem brutalen Gemetzel nicht abwand.
Noch lange nach der Hinrichtung erzählte man sich, sie habe den Henker mit Gold bestochen, damit dieser ein ungeschärftes Schwert benutzte. Der Geist Sir Nicholas’ durchstreifte lange die Welt, bis er Elisabeth wiederfand. Sie war nun alt geworden und arbeitete als Lehrerin in einer Schule für Hexerei und Zauberei. Auch nach ihrem Tod blieb Sir Nicholas dem Haus, das sie als Hauslehrerin betreut hatte, treu. Bis heute hilft er neuen Gryffindorgenerationen zu ihrer wahren Stärke zu finden.

by an innocent sly

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